Darum geht es
Text: Nik Thomi, Fotos: Linn Jousson, Illustration: Bruno Yerly
Votre Cercle de Vie ist die Geschichte einer Bauernfamilie aus dem waadtländischen Pays-d’Enhaut. Es ist aber auch die Geschichte vom Glauben an die Ganzheitlichkeit des menschlichen Organismus, an die Kraft der Synergien und die Biodiversität. Es ist die Geschichte vom Mut, Pionierarbeit zu leisten, Kontrolle abzugeben und Vertrauen zu schenken. Und es ist die Geschichte vom idealistischen Kampf gegen die Entfremdung des modernen Menschen von der Natur.
Die Landwirtschaft als Nabelschnur
Als Esther Gerber Mitte der 1980er Jahre auf einem Bergbauernhof im Simmental zur Welt gekommen ist, hätte wohl niemand damit gerechnet, dass sie 38 Jahre später Protagonistin eines Kinofilms sein wird, der das wahrscheinlich revolutionärste nachhaltige Landwirtschaftsprojekt der Schweiz zum Thema hat: Votre Cercle de Vie – initiiert von Esther Mottier-Gerber und ihrem Mann Nicolas Mottier. Ein landwirtschaftliches Kompetenzzentrum, das als einzigartiger Mikrokosmos bestehend aus 18 verschiedenen Tätigkeitsfeldern in sich geschlossen funktionieren soll. Ein Lebenskreis, der nach dem «Cradle to Cradle»-Prinzip aufgebaut ist: Von Lebensmitteln über Möbel bis hin zu Wasser, tierischen Ausscheidungen und Abfällen soll alles gesammelt, umgewandelt und wiederverwendet werden. Ein Zentrum, das zum Ziel hat, die Menschen wieder mit der Natur zu verbinden. Denn für Esther Mottier-Gerber ist klar: «Man kann nur zu etwas Sorge tragen, das man kennt.» Und die Landwirtschaft sei dabei als Nabelschnur zwischen Mensch und Natur das wohl wichtigste Bindeglied.
Im Zeichen der kommenden Generation
Den Grundstein für das ambitionierte Projekt legten die Mottiers bereits mit der schrittweisen Umstellung auf eine biodynamische Landwirtschaft sowie mit der Eröffnung zweier Bioläden und einer naturheilkundlichen Praxis. Den endgültigen Anstoss, den eingeschlagenen Weg konsequent weiterzuverfolgen, gab jedoch die Geburt ihres Sohnes Laurent. «Plötzlich wurde uns die Unmittelbarkeit des Handlungsbedarfs bewusst», sagt Esther Mottier-Gerber. «Mit der Geburt eines Kindes wird dir vor Augen geführt, dass dein Handeln auf der Erde nicht nur dich betrifft, sondern in direkter Art und Weise auch die nächste Generation.» Anstatt darauf zu warten, dass die Politik Lösungen im Kampf gegen die drohende Klimakatastrophe findet, überlegte sich das Ehepaar Mottier-Gerber, was sie selbst mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln ausrichten können.
So reifte die Idee, ein Kompetenzzentrum zu errichten, welches Mensch und Natur in symbiotischer Art und Weise miteinander verbindet. So sollen in den futuristisch anmutenden Gebäuden dereinst nicht nur ein Stall, Gästezimmer, ein Restaurant und eine Natur-Wellness-Oase untergebracht sein, sondern auch ein Bioladen, Praxen für Allgemeinmedizin und Naturheilkunde sowie Unterrichtsräume.
Nachhaltig Geld verdienen
Neben dem idealistischen Antrieb, die Biodiversität und die Nachhaltigkeit generell zu fördern, stand von Beginn weg auch die Wirtschaftlichkeit im Zentrum. «Wir wollen beweisen, dass Ökonomie und Ökologie keine Gegensätze sein müssen», sagt Esther Mottier-Gerber und verweist auf den Anspruch, dass Cercle de Vie Modellcharakter haben soll und auch auf andere Betriebe und andere Regionen der Schweiz anwendbar sein soll.
Um dieses monumentale und äusserst komplexe Projekt realisieren zu können, sind die Mottiers auf ein riesiges Netzwerk an Unterstützerinnen und Unterstützern angewiesen. «In den vergangenen 12 Jahren haben mehr als 500 Personen an dem Projekt mitgewirkt», sagt Esther Mottier-Gerber. «Neben unzähligen Firmen sind auch verschiedene Universitäten involviert. Ein Ingenieur errechnete uns beispielsweise, dass allein mit der Abwärme von einem einzigen Schwein ein ganzes modernes, gut isoliertes Haus beheizt werden könnte. Solche Erkenntnisse sind faszinierend und für uns sehr wertvoll.»
Bald soll Baubeginn des Kompetenzzentrums sein. Nach neun Jahren Koordinationsarbeit mit dem Kanton Waadt und 21 involvierten Ämtern warten die Mottiers nun noch auf die letzte Bewilligung einer Eidgenössischen Kommission. Danach kann das öffentliche Baugesuch eingegeben werden. Auch die Finanzierung ist auf gutem Weg. Unter anderem konnten mittels Crowdfunding bisher über 90’000 Franken gesammelt werden. Sofern keine Einsprachen das Projekt verzögern, sollte in drei Jahren die Eröffnung gefeiert werden können. Bereits jetzt haben die Pioniere aber ein Ziel erreicht: «Wir wollten aufzeigen, dass jeder Mensch, egal welcher Background er hat, etwas bewegen kann.» Und ob!
Kinofilm über Esther Mottier-Gerber
«Le Pari d’ Esther»
Mit dem Film «Le Pari d’Esther» dokumentieren die freie Westschweizer Journalistin Camille Andres und ihr Team die ökologischen Veränderungen in den Waadtländer Alpen und gehen der Frage nach, welches die grössten Herausforderungen für Landwirtschaft und Tourismus angesichts der Klimaerwärmung sind. Dafür porträtieren sie eine bemerkenswerte Frau, durchdrungen von einer tiefen Überzeugung: Man muss den Menschen wieder mit der Natur in Einklang bringen.